Der Spiegelbaum im verwunschenen Tal

Der Spiegelbaum

Es war einmal ein Tal, das sich so tief zwischen den Bergen versteckte, dass kaum ein Wanderer es je fand. Der Nebel hielt sich dort länger als anderswo, und selbst die Vögel, die über das Tal flogen, wurden leise, als wollten sie nicht stören, was dort schlief.

Am Ende eines moosbedeckten Pfades stand ein einzelner Baum,  ein gewaltiger, uralter Baum mit einer silbernen Rinde, die im Sonnenlicht glänzte wie Glas. Seine Blätter waren durchsichtig wie Wasser, doch wenn man genau hinsah, erkannte man: Jedes einzelne Blatt spiegelte das Gesicht dessen, der es betrachtete.

Die Leute aus den Dörfern ringsum nannten ihn den Spiegelbaum. Man sagte, wer sich unter seinen Ästen niederließ, konnte nicht nur sein äußeres Gesicht sehen sondern auch das, was tief in seinem Herzen wohnte. Doch kaum einer wagte es, zu ihm zu gehen. Denn nicht jeder wollte sehen, was sich dort verbarg.

In einem kleinen Dorf am Rande des Berges lebte ein Junge namens Elian. Er war acht Jahre alt, hatte wilde Locken und Augen, die oft in die Ferne blickten, als warteten sie auf eine Geschichte, die noch niemand erzählt hatte. Elian sprach nicht viel. Seit sein Vater eines Tages fortgegangen war und nicht zurückkehrte, zog er sich mehr und mehr in sich selbst zurück.

Die anderen Kinder mieden ihn. „Er träumt nur“, sagten sie. Die Erwachsenen schauten mit mitleidigen Blicken, wenn er vor sich hin murmelte und auf leere Felder starrte. Nur seine Großmutter, die ihn aufzog, verstand seine Stille.

Eines Abends, es war ein Tag, an dem der Himmel so grau war, dass selbst die Blumen ihre Blüten geschlossen hielten, setzte sich Elian neben seine Großmutter ans Feuer.

„Großmutter?“, fragte er leise. „Ja, mein Kind?“ „Gibt es wirklich einen Baum, der zeigt, wer man ist?“ Sie schwieg einen Moment, dann nickte sie. „Ja. Doch er zeigt dir nicht nur, wer du bist. Er zeigt dir, wer du sein könntest.“ Elian sah sie an. „Und… was, wenn ich das nicht sehen will?“ Die Großmutter streichelte seine Wange. „Dann wird der Baum schweigen. Aber manchmal… flüstert er dennoch.“

Am nächsten Morgen brach Elian früh auf, ohne ein Wort zu sagen. In seiner Tasche ein Apfel, ein Stück Brot, und ein rotes Halstuch, das einst seinem Vater gehört hatte. Der Weg war lang. Der Nebel verdichtete sich, je höher er stieg. Manchmal glaubte er, Schatten zwischen den Bäumen zu sehen, Gesichter, die im Dunst verschwanden, kaum dass er sie wahrnahm.

Doch schließlich, nach Stunden des Schweigens, öffnete sich der Wald, und da stand er: der Spiegelbaum. Er war größer, als Elian ihn sich je vorgestellt hatte. Seine silberne Rinde glänzte wie gefrorenes Licht, und jedes Blatt bewegte sich, als atmete es. Zögernd trat Elian näher. Sein Spiegelbild in den Blättern war nicht klar, es flackerte, wechselte, zeigte ihn mal als Kind, mal als alten Mann, mal lachend, mal weinend.

Da hörte er eine Stimme. Nicht laut. Kein Ton. Sondern ein Gedanke, der nicht von ihm selbst stammte: „Wer bist du wirklich, Elian?“ Er wich zurück. „Ich… weiß es nicht“, flüsterte er. Die Blätter rauschten. Und dann – ganz ohne Wind – fiel eines herab und landete sanft vor seinen Füßen. Zögernd hob Elian es auf. Es war kalt, glatt und plötzlich sah er nicht mehr nur sich selbst.

Er sah seinen Vater. Nicht wie er ihn zuletzt gesehen hatte, sondern jung, lächelnd, voller Hoffnung. Er sah ihn durch die Felder laufen, hörte sein Lachen, spürte seine warme Hand auf der Schulter. Dann veränderte sich das Bild. Er sah seinen Vater gehen. Die gleiche Jacke. Das gleiche Halstuch. Und dann… nichts. Elian ließ das Blatt sinken. Tränen standen ihm in den Augen. „Warum hat er uns verlassen?“, rief er.

Stille. Dann kam wieder der Gedanke, ganz ruhig, wie von innen heraus: „Er suchte etwas in sich. So wie du jetzt.“ Elian schluckte. „Aber ich bin doch nur… ein Junge.“ „Und doch trägst du mehr Mut in dir, als viele Männer je finden.“ Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, spiegelten ihn die Blätter anders. Nicht mehr flackernd. Klarer. Ruhiger. Und er spürte – vielleicht zum ersten Mal, dass es in ihm einen Kern gab, der nicht verloren war.

Die Sonne brach durch die Wolken, und das Licht fiel auf den Baum. Ein letzter Blick, ein Nicken, dann wandte Elian sich ab. Er trug kein Blatt mit sich fort, keine Zweige, keine Beweise. Nur das Wissen, dass es ihn gab: den Spiegelbaum.

Und dass er, Elian, mehr war, als andere in ihm sahen.

Was wir aus dieser Geschichte lernen können:
Manchmal suchen wir im Außen, wer wir sind, dabei liegt die Antwort in uns. Mut beginnt dort, wo wir bereit sind, uns selbst zu begegnen, mit all dem, was wir fühlen, fürchten und hoffen.

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