Der König, der nicht weinen konnte

König

Es war einmal ein Königreich, das so stolz auf seine Stärke war, dass kein einziger Regent je einen Träne vergossen hatte – so jedenfalls erzählte man es sich.

„Ein König muss hart sein“, sagten die Lehrer.
„Ein König darf keine Schwäche zeigen“, riefen die Berater.
„Ein König muss wie ein Schwert sein, kalt, scharf und unzerbrechlich“, murmelte sogar der Thron selbst, wenn er in der Nacht unter dem Gewicht der Verantwortung ächzte.

Der derzeitige König hieß Aurelian. Er war jung, kaum älter als dreißig, aber bereits gezeichnet von der Krone, die er mit kaum achtzehn übernommen hatte, als sein Vater überraschend starb. Seitdem hatte Aurelian niemals geweint.

Nicht, als der Krieg kam.
Nicht, als die Mauern brannten.
Nicht, als sein Bruder bei einem Überfall fiel.
Nicht einmal, als seine Mutter in seinem Arm den letzten Atemzug tat.

Sein Blick blieb klar. Seine Stimme fest. Sein Gesicht wie Stein. Doch in den Nächten, wenn kein Hofdiener, kein Soldat, kein Berater ihn sah, wachte er auf, griff sich an die Brust, und fragte sich: Warum kann ich nicht weinen?

Eines Tages kam eine Frau an den Hof. Niemand kannte ihren Namen. Sie trug ein Tuch über dem Kopf, ihre Kleidung war die einer Kräutersammlerin, und sie sprach mit ruhiger Stimme. „Ich bringe dem König ein Geschenk“, sagte sie. Die Wachen lachten. Doch sie bestand darauf. Und da Aurelian gerade einen Tag der Audienz hielt, ließ man sie vor. Sie trat vor den Thron, verneigte sich und reichte ihm eine kleine, schlichte Schatulle.

„Was ist das?“, fragte Aurelian. „Etwas, das Ihr verloren habt.“ Er öffnete die Schatulle, darin lag ein einziges, gläsernes Tränchen. Perfekt geformt, schimmernd wie Morgentau. „Eine Träne?“, fragte er spöttisch. „Eure erste“, sagte sie. „Die, die Ihr nie geweint habt.“

In der folgenden Nacht träumte Aurelian von seinem Vater. Er stand in der alten Halle, dort, wo früher das große Familienbild hing. Doch es war leer. Nur ein einziger Schatten war zu sehen, undeutlich, zitternd, wie eine Erinnerung, die verschwinden wollte. „Du hast zu viel getragen“, sagte die Stimme. „Aber nichts losgelassen.“ Als er aufwachte, lag das gläserne Tränchen nicht mehr in der Schatulle – sondern auf seiner Brust.

Und es zerbrach. Doch statt Splittern kam Wärme. Und dann, zum ersten Mal seit vielen Jahren, flossen seine Tränen. Nicht viele. Keine lauten. Aber echte. Und mit jeder Träne fiel ein Gewicht von ihm ab, das er nie bemerkt hatte, weil man es ihm schon als Kind auf die Schultern gelegt hatte.

Am nächsten Tag trat Aurelian vor sein Volk. Er sagte nichts Großes. Kein königliches Dekret. Nur ein Satz: „Ich habe geweint.“ Ein Raunen ging durch die Menge. Doch statt Spott kam Stille. Und in dieser Stille, Verständnis. Denn manchmal braucht ein Volk keinen unzerbrechlichen König. Sondern einen, der Mensch ist.

Was wir aus der Geschichte lernen können:
Wahre Stärke zeigt sich nicht im Verbergen von Gefühlen, sondern im Zulassen. Wer weint, verliert nicht, er befreit sich. Und manchmal braucht ein ganzes Volk einen König, der Mensch ist.

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